Scheinselbstständigkeit – Sozialversicherungsstatus eines Anästhesisten bei Einbindung in eine Klinik
Ein Beitrag von RA Dr. Großbölting und wissenschaftlichem Mitarbeiter Karl Lenke
„Selbstständig oder doch abhängig beschäftigt?“ – Diese Frage stellt sich immer wieder, wenn es um die Arbeit von Honorarärzten in Kliniken geht.
In einem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG BaWü v. 29.07.2024 – L 2 BA 1152/24) wurde nun entschieden, dass ein Anästhesist, der in einer Privatklinik die Operationen begleitet, keineswegs automatisch der Sozialversicherungspflicht unterliegen muss.
Damit wies das Gericht die Berufung der Beklagten, einer Sozialversicherung, gegen das vorherige Urteil des Sozialgerichts Mannheim ab.
Der Fall drehte sich um die jur. Frage, ob der Anästhesist, der seit mehreren Jahren Narkoseleistungen für eine Privatklinik erbringt, als selbstständig tätig oder abhängig beschäftigt einzustufen ist.
Die Klinik für plastische Chirurgie hatte mit dem Anästhesisten einen Honorararztvertrag geschlossen, in dem ausdrücklich eine selbstständige Tätigkeit vereinbart wurde. Die Sozialversicherung stellte jedoch fest, dass der Arzt faktisch in die Arbeitsorganisation der Klinik eingegliedert sei. Sie argumentierte, dass Merkmale einer abhängigen Beschäftigung vorlägen, etwa durch festgelegte Arbeitszeiten, die gemeinsame Tätigkeit zwecks Durchführung der Operationen, die Nutzung von Klinikeinrichtungen und die Zusammenarbeit mit dem Klinikpersonal.
Der Anästhesist hingegen verteidigte sich mit dem Hinweis, dass er eigenständig arbeite. Er nutze seine eigenen Geräte, trage die Kosten für Medikamente und Verbrauchsmaterialien, beschäftige eigenes Personal und trage daher ein unternehmerisches Risiko. Darüber hinaus habe er die Freiheit, Aufträge abzulehnen und sei nicht vollständig in den Klinikbetrieb integriert. Diese Argumente überzeugten sowohl das Sozialgericht als auch das Landessozialgericht.
Das Gericht hob zunächst besonders hervor, dass es keine Abweichungen zwischen der vertraglichen Vereinbarung und der tatsächlichen Durchführung der Tätigkeit gab. Trotz der Nutzung der Klinikräume und der Einhaltung von Hygienestandards – was in der Natur der ärztlichen Arbeit liege – wurde die selbstständige Tätigkeit nicht infrage gestellt. Die Tatsache, dass der Anästhesist seine eigene Ausrüstung nutzte und eigenverantwortlich Narkoseleistungen erbrachte, sprach deutlich für seine Selbstständigkeit. Auch das finanzielle Risiko, das der Arzt durch den Kauf und die Wartung seiner Geräte sowie die Beschäftigung eigenen Fachpersonals trug, war ein zentrales Argument. Als weiteren Grund für eine selbstständige Tätigkeit sah das Gericht eine Pauschalvergütung pro Anästhesieleistung, wobei eigene Aufwendungen zusätzlich nicht vergütet wurden. Zudem führte der Anästhesist die ärztliche Dokumentation nicht in der Klinik, sondern in seinen eigenen Praxisräumen. Die Operationstermine wurden einvernehmlich festgelegt, sodass er nicht an einen festen OP-Plan gebunden war. Darüber hinaus war der Kläger nicht verpflichtet, die Anästhesieleistungen persönlich zu erbringen, sondern konnte diese an einen von ihm beschäftigten Anästhesiearzt delegieren.
In seiner Begründung verwies das Gericht auf die besondere Rolle von Honorarärzten in Krankenhäusern. Es führte aus, dass eine bloße Nutzung der Klinik-Infrastruktur nicht automatisch zu einer abhängigen Beschäftigung führt. Vielmehr müsse eine umfassende organisatorische und wirtschaftliche Eingliederung vorliegen, was im vorliegenden Fall nicht gegeben war.
Das Urteil stellt in Fortentwicklung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG-Urteil v. 04.06.2019 B 12 R 11/18 R) klar, dass selbst in einem streng regulierten Arbeitsumfeld wie einer Klinik die Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit überwiegen können, wenn der Arzt weitgehend unabhängig agiert und ein unternehmerisches Risiko trägt.