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Ambulante Versorgung im Koalitionsvertrag: Große Schritte oder kleine Kompromisse? 

„Verantwortung für Deutschland“ – unter diesem Titel wurde der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD für die 21. Legislaturperiode unterzeichnet. Die Präambel betont historische Herausforderungen – die Erwartungen der ambulanten Leistungserbringer sind entsprechend hoch. Der Vertrag enthält sowohl bekannte als auch überraschende Reformansätze. Doch wie tiefgreifend sind sie wirklich?

Der neue Koalitionsvertrag für die ambulante Versorgung: Transparenz bei investorengetragenen MVZ

Der Koalitionsvertrag greift das Thema investorengetragene MVZ (iMVZ) erneut auf. Ein eigenes „iMVZ-Regulierungsgesetz“ soll mehr Transparenz über Eigentümerstrukturen schaffen. Konkrete Vorgaben, etwa strengere Zulassungskriterien oder eine räumliche Kopplung an Krankenhausstandorte, fehlen jedoch. Es bleibt offen, wie weit die Regulierung tatsächlich reichen wird.

Verbindliches Primärarztsystem: Patientensteuerung neu gedacht

Ein zentrales Vorhaben ist die Einführung eines verpflichtenden Primärarztsystems. Haus- und Kinderärzte sollen die Versorgung steuern, wobei die freie Arztwahl grundsätzlich erhalten bleibt. Ausnahmen gelten für Gynäkologie, Augenheilkunde und bestimmte chronische Erkrankungen.

Die Terminvergabe wird über Primärärzte oder die Hotline 116117 gesteuert. Wird ein Termin nicht fristgerecht vermittelt, soll der Zugang zur fachärztlichen Versorgung im Krankenhaus geöffnet werden. Ergänzend geplant: eine telemedizinische Ersteinschätzung mit Fokus auf strukturiertes Vorgehen und Missbrauchsschutz bei Online-Krankschreibungen.

Entbudgetierung für unterversorgte Regionen

Ärztliche Leistungen sollen in unterversorgten Gebieten entbudgetiert werden. Das soll die Versorgung verbessern und neue Anreize schaffen. Flankierend: Jahrespauschalen in der Hausarztversorgung sowie eine Bagatellgrenze von 300 € bei Regressprüfungen.

Gleichzeitig heißt es im Vertrag: „Zuschläge in unterversorgten, Abschläge in überversorgten Gebieten“. Dieser sogenannte Fairnessausgleich wirft Fragen auf: Droht eine Umverteilung ohne echte Steuerungswirkung?

Verzahnt wird dieses Thema mit der Ausweitung der hybrid-DRGs. Außerdem sollen die Länder eine „ausschlaggebende Stimme“ in den Zulassungsausschüssen erhalten, was neue Spielräume für kleinteilige Bedarfsplanung eröffnen könnte.

Digitalisierung und Bürokratieabbau: Chancen und Risiken

Der Vertrag nennt viele Digitalisierungsmaßnahmen: einheitliche Schnittstellen für Praxissoftware, verpflichtende Standards, Ausweitung der ePA-Nutzung und KI-gestützte Dokumentation.

Bis 2027 sollen alle Akteure im Gesundheitswesen interoperabel digital kommunizieren können. Ziel ist, Informationsflüsse zu verbessern und den Verwaltungsaufwand zu senken. Damit verbunden ist aber auch technischer Umstellungsaufwand – insbesondere für digital weniger affine Praxen.

„Wir wollen eine KI-unterstützte Behandlungs- und Pflegedokumentation ermöglichen und streben ein konsequent vereinfachtes und digitales Berichtswesen an.“

Zahnarztpraxen: Kaum direkte Neuerungen

Für Zahnarztpraxen gibt es kaum spezifische Regelungen. Erwähnt wird nur die künftige Stärkung der Länderbeteiligung bei der Bedarfsplanung. Diese soll es ermöglichen, regionale Besonderheiten – z. B. Pendlerströme – besser zu berücksichtigen.

Indirekt könnte sich durch die MVZ-Regulierung auch für Zahnärztinnen und Zahnärzte etwas ändern – insbesondere für jene, die ihre Praxis an Investoren verkaufen oder dies planen.

Psychotherapie: Mental Health im Fokus

Psychische Gesundheit wird stärker berücksichtigt: Prävention, Früherkennung, Notdienste und ein neues Suizidpräventionsgesetz stehen im Zentrum. Besonders Kinder und Jugendliche sowie ländliche Regionen sollen profitieren.

Digitale Angebote wie DiGa und Online-Beratung werden ausdrücklich gefördert. Positiv ist auch: Die psychosomatische Grundversorgung durch Hausärzte wird künftig nicht regressfähig sein.

Fazit: Ein mutiger, aber ausbaufähiger Schritt

Der Koalitionsvertrag setzt wichtige Akzente: Ambulantisierung, Digitalisierung, psychische Gesundheit und Bürokratieabbau. Vieles war überfällig – vieles hängt nun von der Umsetzung ab.

Ob die Regierung dem Leitsatz „Für jedes neue Gesetz zwei alte streichen“ folgt, bleibt abzuwarten. Klar ist: Die ambulante Versorgung wird weiter aufgewertet. Für Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten gilt: jetzt aktiv mitgestalten, Chancen nutzen – und sich gegebenenfalls beraten lassen.

KWM Autor
Dr. Tobias Witte
Partner
Fachanwalt für Medizinrecht
Fachanwalt für IT-Recht
Zertifizierter Datenschutzbeauftragter
Justiziar des BNKD
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