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Ambulante Versorgung im Koalitionsvertrag: Große Schritte oder kleine Kompromisse? 

„Verantwortung für Deutschland“ ist der Titel des frisch unterzeichneten Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD für die 21. Legislaturperiode. Dieses Leitmotiv zieht sich durch den Vertrag, und schon in der Präambel geizen die Koalitionäre nicht mit Pathos und dem Verweis auf die aktuell historischen Herausforderungen. Entsprechend groß sind die Erwartungen auch der ambulant tätigen Leistungserbringer an die neue schwarz-rote Bundesregierung. Der Koalitionsvertrag enthält tatsächlich einige substanzielle Änderungen – manche davon wurden bereits zuvor lange (aus)diskutiert, andere kommen überraschend. 

Doch wie nachhaltig und tiefgreifend sind die geplanten Reformen wirklich? Wir haben uns den Koalitionsvertrag mit medizinrechtlichem und gesundheitspolitischem Blick angesehen und fassen für Sie die wichtigsten Neuerungen für Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten zusammen. 

Transparenz und Regulierung für investorenbetriebene MVZ 

Nicht ganz überraschend kommt, dass ein Thema im Koalitionsvertrag – wenn auch nur beiläufig – wieder aufgegriffen wird, das bereits zuvor in der gesundheitspolitischen Debatte kontrovers diskutiert wurde: Investorengetragene MVZ (iMVZ) und deren (vermeintlicher?) Regulierungsbedarf. Bereits seit geraumer Zeit wurde über eine klarere Regulierung dieser Einrichtungen gesprochen. Nun soll das geplante „iMVZ-Regulierungsgesetz“ für mehr Transparenz sorgen. 

Ein Verweis auf strengere Zulassungskriterien – die zuletzt von Teilen der gemeinsamen Selbstverwaltung wie der Bundesärztekammer in umfassender Weise gefordert wurden – fehlt zwar, stattdessen spricht der Vertrag von der „systemgerechten Verwendung der Beitragsmittel“. Eine Erhöhung der Transparenz mag zur besseren Nachvollziehbarkeit der Eigentümerstrukturen sinnhaft sein. Aus der Formulierung der systemgerechten Mittelverwendung lässt sich eine stärkere Zulassungsregulierung, beispielsweise über eine räumliche Kopplung der Gründungsberechtigung durch Krankenhäuser, indessen nur schwer entnehmen. Wie weit das geplante iMVZ-Regulierungsgesetz am Ende gehen wird, lässt sich daher nur schwer prognostizieren. Fakt ist, dass andere Themen im Koalitionsvertrag weitaus größeren Raum einnehmen. 

Neues Primärarztsystem: Effizientere Patientensteuerung und kürzere Wartezeiten? 

Eine bedeutende Neuerung im Koalitionsvertrag ist die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems, das die ambulante Versorgung gezielt verbessern soll. Die haus- und kinderärztliche Betreuung wird dabei als zentrale Instanz etabliert, wobei Patientinnen und Patienten weiterhin grundsätzlich ihren Arzt frei wählen können – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die der Vertrag gesondert betont. Ausnahmen vom neuen Primärarztsystem sind lediglich in den Bereichen Gynäkologie und Augenheilkunde sowie für schwere chronische Krankheiten vorgesehen, wo eine direkte Facharztkonsultation weiterhin möglich bleibt oder ein Fachinternist als steuernder Primärarzt im Einzelfall etabliert wird. 

Die genaue Dringlichkeit und der zeitliche Rahmen für einen notwendigen Facharzttermin sollen entweder vom Primärarzt oder durch die bundesweite Rufnummer 116117 bestimmt werden. Der Vertrag spricht hier von einer „Termingarantie“ – ein Vorhaben, das in ähnlicher Form bereits vielfach versucht wurde. Sollte diese Termingarantie nicht erfüllt werden können, wird künftig vorgesehen, den betroffenen Patienten kurzfristig den ambulanten Zugang zur fachärztlichen Versorgung im Krankenhaus zu ermöglichen.  

Ergänzend dazu ist vorgesehen, dass Patientinnen und Patienten flächendeckend Zugang zu einer digitalen, telemedizinischen Ersteinschätzung erhalten, die eine strukturierte und zeitnahe Versorgung sicherstellen soll. Ein interessantes Detail des Vertrags ist in diesem Zusammenhang die ausdrückliche Bezugnahme auf die Online-Krankschreibung, bei der Missbrauch durch private Anbieter künftig ausgeschlossen werden soll. 

Auch wenn diese Maßnahmen potenziell die Patientensteuerung effizienter und die Versorgung schneller gestalten könnten, zeichnet sich hier bereits ein möglicher zusätzlicher Verwaltungsaufwand für Praxen und Patienten ab – allen Bestrebungen im Vertrag zum Thema Bürokratieabbau zum Trotz. Entscheidend wird letztlich die praktische Umsetzung und die Akzeptanz der neuen Verfahren durch die Patientenschaft sein. 

Entbudgetierung als Anreiz für unterversorgte Regionen 

Positiv hervorzuheben ist das Vorhaben, ärztliche Leistungen in unterversorgten Regionen zukünftig zu entbudgetieren. Dies könnte ein entscheidender Faktor sein, um Ärzte für eine Tätigkeit in strukturschwachen Gebieten zu gewinnen und dort die Versorgungssituation nachhaltig zu verbessern. Ergänzend dazu plant die Regierung die Einführung von Jahrespauschalen in der hausärztlichen Versorgung. Dadurch könnten administrative Abläufe vereinfacht und wirtschaftliche Planungssicherheit verbessert werden, mit dem Ziel, nicht bedarfsgerechte Arztkontakte zu reduzieren. Auch ein Schritt in die richtige Richtung ist die Einführung einer Bagatellgrenze von 300 EUR bei der Regressprüfung.  

Für Verwunderung dürfte allerdings die Kehrseite der Entbudgetierung in unterversorgten Gebieten aufgenommen werden, wo es da im Koalitionsvertrag heißt: 
 
Außerdem gibt es in (drohend) unterversorgten Gebieten Zuschläge zum, in überversorgten Gebieten (größer 120 Prozent) Abschläge vom Honorar.“  
 
Das Ganze firmiert im Koalitionsvertrag unter dem Begriff „Fairnessausgleich“, doch ob das künftige Gesetz hier einen fairen Ausgleich schafft oder nur nochmals verstärkt Honorare von überversorgten Gebieten in unterversorgte verteilt, bleibt mit Spannung abzuwarten. Interessant ist dieser Komplex auch im Zusammenspiel mit hybrid-DRGs, welche ausdrücklich beibehalten und ausgebaut werden sollen. 

Ebenso unklar ist, was im Koalitionsvertrag mit einer Stärkung der Länderbeteiligung gemeint sein soll: Die Länder erhalten künftig in den Zulassungsausschüssen eine „ausschlaggebende Stimme“. Immerhin wird im Vertrag im gleichen Atemzug die Möglichkeit einer kleinteiligeren Bedarfsplanung genannt, was lokal echte Vorteile für eine differenzierte Versorgung bedeuten kann. 

Digitalisierung und Bürokratieabbau: Fortschritt oder Zusatzaufwand? 

Die neue Bundesregierung setzt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens sowie beim Bürokratieabbau deutliche Schwerpunkte – auch mit Blick auf die ambulante Versorgung. Die Maßnahmen zielen darauf ab, Versorgung effizienter zu gestalten, administrative Belastungen zu reduzieren und die Patientensicherheit durch bessere Informationsflüsse zu stärken. 

Zentral ist neben der oben genannten telemedizinischen ärztlichen Ersteinschätzung beispielsweise die geplante Einführung einheitlicher Schnittstellen und verpflichtender Standards für Praxisverwaltungssysteme. Diese Maßnahme soll die Interoperabilität erhöhen und sicherstellen, dass Patientendaten verlässlich und systemübergreifend nutzbar sind. Bislang bestehen hier zahlreiche Insellösungen, die zu Medienbrüchen und ineffizienten Prozessen führen. Die Koalition will diese Zersplitterung durch klare gesetzliche Vorgaben auflösen. Bis 2027 sollen alle Akteure im Gesundheitswesen einheitlich digital und verlustfrei kommunizieren können. 

Die Verpflichtung zur Nutzung der ePA soll zudem weiter ausgebaut und eine Nutzungsverweigerung der ePA sanktionsbewehrt werden. Ziel ist eine vollständig digitale Kommunikationskette zwischen Praxen, Apotheken, Krankhäusern, Krankenkassen. Damit das auch nahtlos und zügig gelingen kann, will die neue Regierung auch KI-Unterstützung mehr Raum geben, denn im Vertrag heißt es:  
 
Wir wollen eine KI-unterstützte Behandlungs- und Pflegedokumentation ermöglichen und streben ein konsequent vereinfachtes und digitales Berichtswesen an.“ 

Da ausufernde Dokumentationspflichten einen besonderen Schmerzpunkt bei Ärzten und Zahnärzten, nicht nur in eigener Praxis, darstellen, dürfte diese Ankündigung auf offene Ohren stoßen. Während diese Maßnahmen potenziell Abläufe vereinfachen könnten, besteht aber die Gefahr zusätzlicher technischer Herausforderungen. Es ist daher essenziell, dass die neuen Vorgaben praxisnah gestaltet werden und echte Erleichterungen bringen. Denn es gibt noch immer eine ganze Reihe an Praxen, die trotz Anreizschaffung eine konsequente Digitalisierung bewusst oder unbewusst meiden – zu ihrem eigenen Nachteil. 

Zahnarztpraxen: Nur indirekte Auswirkungen? 

Für Zahnarztpraxen gibt es keine direkten neuen Vorgaben. Eine Bezugnahme auf Zahnärztinnen und Zahnärzte findet sich im Vertrag nur an einer Stelle, und zwar dort, wo es um die Stärkung der Länderbeteiligung in den Zulassungsausschüssen und um die Budgetsteuerung in unter- und überversorgten Gebieten geht. Dort heißt es:

Dabei definieren wir auch den Versorgungsauftrag und ermöglichen den Ländern, die Bedarfsplanung für Zahnärztinnen und Zahnärzte selbst vorzunehmen.“ 

Angesichts einer lokal auf KZV-Ebene erfahrungsgemäß nicht immer solide betriebenen Versorgungsforschung und Bedarfsfeststellung (Stichwort als Beispiel: Nichtberücksichtigung von Pendlern in Großstädten) kann dies in die richtige Richtung gehen. 
 
Trotz der nur stiefmütterlich betriebenen Bezugnahme auf die dentale Versorgung könnten indirekte Folgen für Zahnärzte durch die geplante Regulierung investorengetragener MVZ eintreten. Zahnärztinnen und Zahnärzte, die beispielsweise ihre Praxis an eine investorengetragene MVZ-Gruppe verkauft haben oder dies planen, sollten die Entwicklung deshalb beobachten. 

Psychotherapeutische Versorgung: Mental Health wird ernst genommen 

Im Koalitionsvertrag findet auch die psychotherapeutische Versorgung besondere Berücksichtigung. Der psychischen Gesundheit wird eine zentrale Rolle eingeräumt, von Prävention und Früherkennung bis hin zu akuten Kriseninterventionen (Suizidpräventionsgesetz und Notdienste durch Psychotherapeuten).  
 
Insbesondere Kinder, Jugendliche sowie ländliche Gebiete sollen von gezielten Maßnahmen profitieren. Digitale Lösungen zur Unterstützung psychotherapeutischer Angebote werden ebenfalls ausdrücklich gefördert im Sinne einer niedrigschwelligen Online-Beratung und – ausdrücklich genannt – digitale Gesundheitsanwendungen (DiGa), also Apps auf Rezept. 

Ein weiteres zu begrüßendes Detail ist auch die Verbesserung der psychosomatischen Grundversorgung durch Hausärzte, welche künftig nicht mehr regressfähig sein wird.

Fazit: Ein mutiger, aber ausbaufähiger Schritt nach vorne 

Die Reformvorhaben der neuen Bundesregierung setzen klare Zeichen: Ambulante Versorgung, psychische Gesundheit, Digitalisierung und Bürokratieabbau stehen im Fokus.  
 
Vieles klingt gut, aber auch weil es überfällig war. Die Ideen sind stellenweise ambitioniert, doch die entscheidende Frage wird sein, wie praxisnah und nachhaltig die Umsetzung gelingt. Wird sich die Bundesregierung an den von Friedrich Merz aufgestellten Grundsatz halten, dass für ein neues Gesetz zwei alte weichen müssen? Im überregulierten System der gemeinsamen Selbstverwaltung dürfte dies ausschlaggebend sein.  
 
Klar ist, dass ambulante Versorgung weiterhin einen deutlich erhöhten Stellenwert erhält – die Ambulantisierung dürfte mit dem vorliegenden Koalitionsvertrag nochmals deutlich an Fahrt aufnehmen. Für Niedergelassene ist der Koalitionsvertrag ein guter Start – aber letztlich zählt, was in der Realität der Praxen ankommt. Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten sollten diesen Wandel daher aufmerksam begleiten, die durchaus neu entstehenden Chancen konsequent nutzen und sich dazu im Zweifelsfall frühzeitig beraten lassen. 

KWM Autor
Dr. Tobias Witte
Partner
Fachanwalt für Medizinrecht
Fachanwalt für IT-Recht
Zertifizierter Datenschutzbeauftragter
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